Der Lockruf
Der Lockruf
Der Lockruf
Neuauflage
Was hält mich hier fest, an diesem Ort, wo mir Nacht für Nacht ein unerklärliches Tippeln den Schlaf raubt, als würden tausend winzige Füße durch den Raum tänzeln? Tiere? Nein, die hätte ich längst entdecken müssen. Der Zustand dieses Zimmers beweist, wie gründlich ich nach ihnen gesucht habe. Und überhaupt, welche Tiere verbreiten einen solchen widerlichen Gestank? Schlimmer noch als Leichengeruch! Dieses unergründliche Etwas trägt die Gewissheit, dass es von mir unentdeckt bleibt und besitzt die Willkür, zu kommen und zu gehen – so wie jetzt, wo es endlich still ist. Es dämmert gerade, und ich höre nichts mehr. Wie immer zu dieser Stunde, neige ich dazu, das Geräusch für ein Produkt meiner überreizten Nerven zu halten, für pure Einbildung also!
Wie dem auch sei, bis heute habe ich immer nur versucht, herauszufinden, was es überhaupt ist. Inzwischen glaube ich, dass es wichtiger und hilfreicher sein kann, die Umstände festzuhalten, die zu meiner augenblicklichen Verfassung geführt haben. Mich verfolgt eine quälende Empfindung, eine schmerzliche, tiefsitzende Traurigkeit, die mich lähmt und daran hindert, von hier wegzugehen. Eigentlich hätte ich diesen Bericht gleich schreiben oder zumindest mir Notizen machen müssen, denn selbst nach einer relativ kurzen Zeit besteht die Gefahr, dass Einzelheiten verloren gehen und durch Fantasie ersetzt werden. Ich stand aber wie unter einem Zauber, einzig daran interessiert, der Sache nachzugehen, meiner Sehnsucht zu folgen, kopflos, blindlings. Doch der Versuch, die Zukunft in die Gegenwart zu ziehen und die Gegenwart in die Vergangenheit zu schieben, hat alles nur verschlimmert. Ich bin hilfloser denn je!
Wie ein Sack schleppe ich mich zum Schreibtisch. Das Logbuch von Kapitän Monnier liegt vor mir aufgeschlagen. Ich beabsichtige, mit meinem Schreiben genau an der Stelle zu beginnen, wo er aufgehört hat. Umso öfter ich seinen letzten Eintrag lese, desto mehr denke ich, dass es sich um Ereignisse handelt, die nicht nur mit dem Meer, dem Wetter und dem Schiff in Zusammenhang stehen. Und obwohl es verrückt klingt, denke ich sogar, dass sie etwas mit mir zu tun haben könnten. Inwiefern, weiß ich noch nicht. Möglicherweise werde ich es erst am Ende meines Berichtes erkennen.
Sollte es mir gelingen, so weiß ich nicht, was mit mir geschehen wird.
Meine seltsame Geschichte beginnt weit, weg von hier, in einem Hotel oben auf dem Vomero. Vermutlich, nein, mit Sicherheit würde es nichts zu erzählen geben, wenn ich das von mir reservierte Einzelzimmer hätte beziehen können. Aus Gründen, für die ich mich nicht weiter interessiert habe, bekam ich aber unverhofft und ohne Aufpreis die Hochzeitssuite. Für einen selbstständigen Buchrestaurator wie mich der absolute Luxus! Ich brauche nicht zu sagen, wie froh ich gewesen bin. Wie sollte ich auch ahnen, dass sich mein unerwartetes Glück als das genaue Gegenteil erweisen sollte! An dieser Stelle halte ich es für sinnvoll, einige Angaben über meine Person zu machen, obwohl nicht anzunehmen ist, dass andere diese Aufzeichnungen jemals lesen werden. Ein Grund mehr, mich nicht um einen Stil zu bemühen, der weniger unzeitgemäß wäre, als ich es bin.
Ich heiße Axel Gennaro Menzel. Axel, wie der Schriftsteller Axel Munthe, in dessen berühmten Garten sich meine Eltern begegnet sind, Gennaro, wie mein italienischer Urgroßvater, der einzige Verwandte, von dem Mutter sprach, und Menzel, wie mein Vater, ein Deutscher, von dem sie so gut wie nie sprach, der gleich nach meiner Geburt einen Ozean zwischen sich und uns gelegt hat. Ich scheine, wie man zu sagen pflegt, das Resultat einer Panne und des Zaubers von Anacapri zu sein. Was damals genau passiert ist und warum Mutter trotzdem in Deutschland geblieben ist, habe ich erst nach ihrem Tod erfahren. In einem langen Brief hat sie versucht alles zu erklären und mir auch Dinge anvertraut, die besser für immer verborgen geblieben wären. Warum sie eine Überdosis Tabletten genommen hat, darüber hat sie kein Wort verloren. Sie hat es einfach getan, kurz vor Weihnachten.
Drei Monate später hat mich auch meine Frau verlassen, mehr oder weniger. Sie ist in ihre alte Wohnung auf der anderen Straßenseite gezogen. Billa und ich kennen uns schon lange, seit mehr als zehn Jahren. Sie war schon mit dreizehn in mich verliebt und ich, der blinde, der schüchterne, der verschrobene Ältere, habe es erst viel später bemerkt. Ihrer Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass wir vor drei Jahren geheiratet haben. Ich dachte, ihre Liebe würde mich ändern, nur so viel, dass ich mit meinem Dasein in den Maßen zufrieden sein könnte, die für mich möglich sind. So schien es auch, bis zur schrecklichen Tat meiner Mutter. Dass sie so unglücklich war, habe ich nicht bemerkt oder nicht merken wollen.
Billa hat natürlich nichts unversucht gelassen, um mir zu helfen, doch je mehr sie sich um mich bemühte, desto gemeiner wurde ich zu ihr. Ich habe sie wegen jeder Kleinigkeit beschimpft, gekränkt, gedemütigt, als wäre sie mein größter Feind. Irgendwann hat sie es nicht mehr ausgehalten und ist ausgezogen. Sie sagte, eine Trennung würde uns beiden guttun. Das hatte auch mein Vater behauptet und ist nie wieder zurückgekommen. Glücklicherweise habe ich ihrem Drängen, ein Kind zu bekommen, nicht nachgegeben. Von einer Scheidung will meine Frau trotzdem nichts wissen. Sie liebt mich immer noch und sicher mehr als ich sie. Vielleicht sollte ich auf Billa hören und mich in jemanden verlieben, der weniger unsichtbar ist. Billa ist weiß Gott vieles, eine Melusine ist sie aber nicht.
Freunde habe ich auch nicht allzu viele. Ich gehe so weit zu sagen, dass ich selbst diese wenigen nicht brauche. Die Gegenwart einer anderen Person lähmt meine Gedanken, meine Sprache, sogar meine Bewegungen, die langsamer und irgendwie unkoordiniert werden. In dem Bewusstsein, keine gute Figur zu machen, verkrampfe ich mich umso mehr und bin kaum imstande, geistreiche Bemerkungen zu machen, geschweige, das Interesse einer schönen Frau zu wecken. Eine Einladung zu einem Abendessen oder einem Fest versetzt mich in eine solche Unruhe, dass ich lange davor weder richtig schlafen noch arbeiten kann.
Nach Italien reisen zu müssen, hat mich völlig durcheinandergebracht. Ein guter Kunde hatte mich aber um einen Gefallen gebeten. Ich sollte einige Bücher im Besitz eines alten Freundes, eines gewissen Dr. Raven, begutachten, gegebenenfalls erwerben und später das eine oder andere restaurieren. Billa war der Meinung, die Abwechslung würde mir guttun – vor Abwechslungen und fremden Orten fürchte ich mich aber, das sollte Billa eigentlich wissen. Andererseits konnte ich es mir nicht leisten, einen solch einträglichen Auftrag abzulehnen – womit sie natürlich recht hatte. Und so war ich mehr oder weniger gezwungen, anzunehmen, wollte aber nicht länger als drei Tage bleiben.
Dass ich die Abreise verschoben habe, ist, wie gesagt, die Folge des unvorhergesehenen Zimmertausches und dessen, was ich in dem Zimmer gefunden habe. Mehr darüber später.